Wie sich meine Krankheit als Wegweiser herausstellte

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Ein Artikel darüber, wie man den Blickwinkel auf eine unheilbare Erkrankung und das eigene Leben damit verändern kann: Stelle die richtigen Fragen, finde deinen Weg und lebe dein Leben mit Krankheit eigenverantwortlich und gesund.

Status Quo: Wie fühlt sich das an, die Diagnose einer unheilbaren Erkrankung zu erhalten?

Vor einigen Jahren arbeitete ich als Krankenschwester in einem Klinikum mit Patienten, die überwiegend die Diagnose Multiple Sklerose (MS) hatten. Eine Erkrankung, bei der Ärzte bis heute nicht wissen, wo sie eigentlich herkommt und warum körpereigene Zellen die eigenen Nerven angreifen, ganz im Sinne einer Autoimmunerkrankung, die auf das Zentralnervensystem im Gehirn und Rückenmark schlägt.

Nerven sind wie Kabel, wird die äußere Hülle (die Myelinscheide) angegriffen, kann die normale Reizweiterleitung nicht mehr gut funktionieren. Daraus resultieren dann allerlei Symptome, oft schubweise: Von Leichtbetroffenheit über Schwerstbetroffenheit, sodass man vollständig auf Hilfe angewiesen ist. Die Krankheit gilt offiziell als unheilbar, es gibt aber Medikamente, die den Verlauf eindämmen können.

Man nennt sie im Laiengebrauch auch die „Krankheit der 1000 Gesichter“, weil jeder Mensch mit dieser Erkrankung anders betroffen ist, kein Symptom ist wie das andere. Schwierig dazu also ein transparentes Bild zu schaffen, ebenso wie sich ein Mensch mit so einer Krankheit und den dazu gehörigen Symptomen fühlt.
Reicht diese Beschreibung aus, um sich vorzustellen, dass Menschen sich sprichwörtlich wie ein Traktor überrollt fühlen, nachdem sie diese Diagnose erhalten haben?

Was würdest du tun, wenn du diese Diagnose erhalten würdest?

Ich war eine gute Krankenschwester, ich nahm die Patienten mit ihren Symptomen und Gefühlen ernst und versuchte sie eben in ihrer Situation aufzufangen. Oft erhielten die Patienten die Diagnose zwischen Tür und Angel ohne eine große Erklärung vom Arzt dazu. Verständlicherweise hatten die Patienten oft einen großen Gesprächsbedarf, wer hätte das nicht?

Aufgrund der politischen Entwicklung und der Privatisierung im Gesundheitswesen wurden immer mehr Stellen abgebaut, das Personal wurde immer weniger, der Arbeitsaufwand wurde immer mehr. Und als wäre dieser Stress nicht schon ausreichend, benötigte es zusätzlich privaten Stress und ich bekam selbst die Diagnose MS. Ich war sowieso schon unglücklich und unzufrieden und nun auch noch unheilbar krank. Scheiße. Und nun?

Ich arbeitete zunächst noch weiter wie gehabt, aber in mir bahnte sich der Gedanke an, dass ich so nicht weitermachen kann: Nicht diese Arbeit*, nicht dieses Leben. Was will ich überhaupt?

Krankheit als Wegweiser

Ich spürte, die Krankheit könnte ein Wegweiser sein. Weg von diesem beruflichen Leben aus ständig wechselnden Schichten, Druck durch die Arbeit und weg vom Privatleben voller Schmerz, Wut und Leid, in dem ich im Außen das Glück suchte mit den Folgen von Konsum und Schulden.

Nur was wollte mir dieser Wegweiser sagen?

Zunächst mal brauchte ich Zeit um diese Diagnose zu verarbeiten. Ich las sehr viel, sowohl Nützliches als auch Unnützes, aber es half mir zu verstehen, dass diese Krankheit in mein Leben getreten ist, damit ich mich mit mir selbst beschäftigte und endlich meinen Weg gehen werde. Ich hatte aus der Vergangenheit noch unbewältigte Konflikte und offensichtlich fand ich mein Glück im Außen nicht. Also wäre es nicht an der Zeit, mal zu schauen, was mein Inneres so preisgibt?

Ich fing an, mich und mein Leben zu hinterfragen:
Wer bin ich? Was gefällt mir? Was möchte ich vom Leben? Welchen Weg möchte ich gehen? Klingt so selbstverständlich, dass man das wissen müsste. Aber ganz ehrlich: Wer weiß das schon, wenn man sein Leben lang mit Wissen zugefüttert wird und sich damit vollgestopft beweisen muss, was man eigentlich gelernt hat. Es entsteht Leistungsdruck, sein Leben nach alten Glaubenssätzen zu leben. Schule, Ausbildung, Studium, heiraten, Kinderkriegen, Karriere, Arbeiten, Altwerden. Das scheint die Norm, so wollen es alle, so können es alle. Eine (chronische) Krankheit passt da nicht rein. Was also tun, wenn man plötzlich krank ist und nicht mehr in die vermeintliche Gesellschaftsschublade passt?

Den eigenen Weg erkennen

Die Helferseele in mir wollte sich mit den neuesten Erkenntnissen über mich vereinen und ich schrieb mich für das Fach Psychologie in der Uni ein. Mit dem Ziel, die Menschen psychologisch aufzufangen, wenn sie eine solche oder eine ähnliche Diagnose erhalten.

Dieses Studium ist trocken und nicht so spannend, wie viele immer denken, aber es gab mir den Raum und die Zeit, mich immer wieder an meinem Wegweiser Krankheit zu orten: Wo stehe ich gerade? Wie geht es mir damit? Was lerne ich daraus? Was mache ich in der Zukunft anders?

Ich fing das Studium als graues Mäuschen an, schüchtern und zurückhaltend, den Tränen nahe, wenn jemand das Wort „Krankheit“ oder „Behinderung“ in den Mund nahm. Es schien alles so überfordernd und meine Symptome meldeten sich ziemlich schnell, wenn etwas zu viel war. Ich kam nur langsam voran. Aber dieser Wegweiser kam mir langsam immer vertrauter vor. Ich merkte, wie ich langsam Kontrolle bekam, meinem Weg zu folgen. 

Das Zauberwort wurde immer größer: Eigenverantwortung ** - Die Verantwortung für mich und mein Leben in die Hand zu nehmen war der Schlüssel zu einem gesunden und selbstbestimmten Leben:
Krankheit als Stempel, Gesundheit als Lebensgefühl.

Und dazu musste ich meinen eigenen Weg gehen, weg von gesellschaftlich verfestigten und limitierenden Glaubenssätzen, hin zu der Ergründung meiner Persönlichkeit, meines Menschseins und hin zu der Frage: Was bedeutet eigentlich Gesundheit für mich? Und wie kann ich sie erreichen?

Das Konzept der ganzheitlichen Betrachtungsweise

Als Mensch ist man immer ein Individuum und jeder Mensch bekleidet unterschiedliche Rollen. Aber alle Menschen haben eines gemeinsam:
Die Suche nach dem Sinn (des eigenen Lebens).
Und dieser kann individuell völlig unterschiedlich sein.

Was kann helfen auf der Suche danach? Vielleicht hatte man den Sinn schon gefunden und plötzlich scheint er (durch die Krankheit) wieder abhandengekommen?

Zunächst einmal hilft immer die Frage nach der Bedeutung: Was bedeutet diese Erkrankung für mich? Was bedeutet dieses Symptom für mich?

Ist das Leben in irgendeiner Art und Weise aus dem Gleichgewicht geraten? Ist diese Erkrankung eventuell ein Lösungsansatz? Wenn ja, wie?

Dazu trägt die ganzheitliche Betrachtung des eigenen Lebens bei:
Wie glücklich und dankbar bin ich? Wie selbstbestimmt bin ich? Welche (evtl. traumatischen) Erfahrungen habe ich gemacht? Welchen Weg bin ich bisher dadurch gegangen? Wie lebe ich jetzt? Was und wie denke ich? Nehme ich meine Gefühle und meine Handlungen bewusst wahr? Wie ernähre ich mich? Bringe ich meinem Körper und meiner Seele den richtigen Treibstoff für neue Energien? Welche Gewinne kann ich durch diese Erkrankung entdecken? Welche Fragen lohnt es sich noch zu betrachten und zu beantworten?

Diese und ähnliche Fragen habe ich mit der Zeit für mich beantwortet und dementsprechend habe ich in meinem Leben einige Veränderungen vorgenommen***. Diese Veränderungen lebe ich und ich habe meinen Weg gefunden. Und doch komme ich hin und wieder vom Weg ab, weil es genug Verlockungen am Wegesrand gibt. Dann ist die Krankheit mein Wegweiser in die Richtung eines gesunden und selbstbestimmten Lebens, das mich immer wieder über mich hinauswachsen und weiterentwickeln lässt.

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* Ich möchte darauf hinweisen, dass ich nicht die Arbeit mit den Patienten meine, ich meine hauptsächlich den Schichtdienst und die Arbeitsbedingungen, dazu könnte ich einen eigenen Artikel verfassen. 😉

** Eigenverantwortung bedeutet nicht, selbst Schuld an der Erkrankung zu sein, sondern sein Leben mit Krankheit selbst in die Hand zu nehmen und den Blickwinkel auf das Leben mit Krankheit zu ändern, raus aus der Opferrolle.

*** Auch hier möchte ich auf etwas hinweisen: Dafür habe ich teilweise professionelle Hilfe, sprich eine Psychotherapie, in Anspruch genommen, teilweise habe ich Antworten für mich selbst gefunden. Dies kann u.U. ein sehr schwieriger und steiniger Weg sein (der es sich zu gehen lohnt, ohne Frage), aber für professionelle Unterstützung auf diesem Weg sollte man sich nicht schämen müssen.

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